Die 10. Staffel von American Horror Story ist in zwei thematisch von einander getrennte Abschnitte aufgeteilt. In „Red Tide“ geht es an der Oberfläche um eine Familie, die in ein atmosphärisches kleines Dorf zieht, in dem nach und nach immer mehr Leute umgebracht werden. Doch wer steckt dahinter?
Mein Essay spoilert „Red Tide“ komplett, vielleicht interessiert er euch ja trotzdem. Denn auf der Metaebene geht es in diesem Staffelteil vor allem die Frage zu diskutieren, wie wichtig Talent für die Gesellschaft ist und wie wir selbst damit umgehen würden, wenn sich herausstellt, dass wir keines haben. Mich als Kreativ schaffende hat das Thema sehr zum Nachdenken angeregt.
Die brotlose Kunst
Wie talentiert bist du? Diese Frage steht im Zentrum des ersten Teils von American Horror Story Staffel 10: „Double Feature“. Fast philosophisch illustriert „Red Tide“ mit seinen sechs Folgen, wie weit Menschen für Anerkennung in Form von Ruhm und Reichtum gehen. Der Ausgangspunkt ist dabei wie so oft eine typische amerikanische Familie: Vater Harry hat eine Schreibblockade und da seine Karriere bisher nur ein paar Skripte für lausige TV-Shows hergegeben hat, soll der Rückzug in das kleine Küstendorf Provincetown endlich für Inspiration sorgen. Auch Mutter Doris erhofft sich dadurch den lang ersehnten Durchbruch, denn als Gewinnerin eines Instagram Wettbewerbs darf sie das Haus komplett umgestalten. Die kleine Tochter Alma, die es natürlich einmal besser haben soll als ihre Eltern, ist bereits eine talentierte Violinistin, doch auch sie scheitert an den schweren Stücken von Paganini. Alle Familienmitglieder verbindet ein Grad an Unzufriedenheit und die Hoffnung endlich mehr zu erreichen. Vor allem Alma betont immer wieder, dass sie die beste sein muss und es nichts gibt was wichtiger ist.
Die Hoffnung großes zu leisten, hatten einst auch die so genannten Pale People, die bereits in der ersten Nacht versuchen ins Haus zu stürmen. Harry kann seine Familie zum Glück vor ihnen verteidigen. Doch für seine Karriere scheint der Tapetenwechsel von New York aufs Land nicht erfolgreich gewesen zu sein. Er bringt einfach keine Zeile aufs Papier. In der einzigen Bar im Ort sieht er den Auftritt der berühmten Schriftstellerin Belle Noir und dem gefeierten Tony Gewinner Austin Sommers. Beide versichern ihm, dass er Talent hat und im Ort bleiben sollte.
Trotz diesem gut gemeinten Rat, beschließt er mit seiner Familie zurück nach New York zu reisen, da Mutter Doris zu viel Angst hat erneut von den Pale People angegriffen zu werden. Blöd nur, dass Harry vor der Abfahrt eine der schwarzen Pillen von Austin genommen hat, die verantwortlich für all den Ruhm sein soll. Das Objekt der Begierde, welches ab der zweiten Folge das Leben der Gardner Familie für immer verändert.
Glück in schwarzen Dosen
Wie sich herausstellt, fungiert die magische schwarze Pille als Katalysator für Menschen, die bereits ein gewisses Maß an Talent besitzen: So schreibt Harry plötzlich derart großartige Skripte, dass Netflix ihm sofort ein Angebot macht und berühmte Schauspieler sogar auf ihre Gage verzichten, um in seinem Film mitzuspielen. Hat man jedoch kein Talent und nimmt die Pille, verwandelt man sich innerhalb weniger Tage zu einem der Pale People. Auch Tochter Alma schnappt sich eines Tages heimlich eine aus Harrys Vorrat und spielt ab sofort fehlerlos Paganini. Sie ist überzeugt davon, dass nur talentierte Menschen wirklich verstehen, was es bedeutet großartig zu sein. Ihrer Meinung nach, sind es daher nur Menschen wie sie oder ihr Vater, die auf dieser Welt zählen.
Eröffnet wird damit die Frage, wie wichtig der Wert einer Person für die gesamte Menschheit ist. Sind es nur die erfolgreichen, die Kreativen, die finanziell unabhängigen die einer Gesellschaft gut tun? Und hat die Art wie Alma diese Frage für sich beantwortet, etwas mit ihrem Alter zu tun? Ist die Gen Z nur noch darauf bedacht, Erfolg daran zu messen wie viel man geleistet hat? Wie viel Geld man verdient, Likes generiert, wie viele Bücher geschrieben, oder Oscars man erhalten hat?
Bestimmt Talent deinen Wert?
Denn eins wird deutlich, die eher traditionellen Leistungen ihrer Mutter Doris erhalten von Alma keinerlei Anerkennung. Sie hält sie für gewöhnlich und möchte sie so schnell wie möglich loswerden. Doris wird einerseits als gebrochene Frau gezeigt, die bereits einige Fehlgeburten erlitten hat und auch beruflich nichts spezielles vorzuweisen hat. Sie kleidet sich in zurückhaltenden Tönen und lässt ihre langen Haare einfach herunter hängen, ohne sich groß zu stylen. Gleichzeitig ist sie eine liebevolle Mutter und Ehefrau, die Harry jede Menge Freiheiten lässt und sich aufopfernd um ihre Familie kümmert. Ihre Gutmütigkeit und Liebe ihrer Familie gegenüber wird ihr in Folge 5 „Gaslight“ jedoch zum Verhängnis und es scheint als sei für diese Art von Talent kein Platz in der Welt. Angelehnt an das namensgebende Theaterstück „Gaslight“ wird auch Doris manipuliert. Alma schenkt ihr plötzlich wieder Zuneigung, und drängt sie dazu die schwarze Pille zu nehmen. In einer tragischen Verwandlung wird Doris, wie wir uns alle von Anfang an gedacht haben, zu einer der Pale People. Erschreckend dabei ist, dass ihr Schicksal nicht mal groß thematisiert wird. Selbst Harry sieht ein, dass er sich bei der Liebe zu ihr was vorgemacht hat und wir sehen lediglich wie Doris im Mondlicht auf dem Friedhof steht und ihre Beute reißt.
Beute ist ein gutes Stichwort, denn damit kommen wir zu dem Preis des Erfolges. Durch die Einnahme der schwarzen Pille werden dem Körper wichtige Nährstoffe entzogen, so dass großes Verlangen nach Blut entsteht. Zunächst versucht Harry seinen Durst noch mit einem Steak-Smoothie zu stillen, was ihm jedoch sehr schnell nicht ausreicht. Menschenblut direkt aus der Kehle muss her. Belle Noire und Austin beruhigen ihr Gewissen damit, dass sie für ihre Jagd möglichst Opfer aussuchen, die von der Gesellschaft nicht vermisst werden, wie Junkies oder Diebe. Fun Fact: Bei dem einen Craigslist Opfer handelt es sich um den kleinen Michael Myers Schauspieler aus dem Rob Zombie Remake.
Die Wahl der Opfer und das Aussaugen des Blutes anderer, hinterfragt erneut den Wert eines Menschen: Leben wir in einer Gesellschaft, in der es legitim ist schwäche im übertragenen Sinne auszusaugen, damit tolle Kunstwerke für eine große Anzahl Menschen entstehen können? Wie sieht es bei Mördern und Verbrechern aus, die anderen Personen Leid zufügen würden. Verdienen sie es zu sterben, damit Künstlerisch Schaffende leben können?
Hier fühlen sich einige vielleicht an das Trolley-Problem der Moral-Philosophin Philippa Foot erinnert. Eine Straßenbahn rollt auf fünf Bauarbeiter zu, die alle sterben würden. Es sei denn man entscheidet sich dazu, auf die andere Schiene zu wechseln, wodurch nur ein Bauarbeiter sterben würde. Kann man den Wert von Menschenleben so einfach aufwiegen? Die deontologische Ethik möchte den moralischen Status einer Handlung nicht anhand ihrer Konsequenzen bestimmen. Der Zweck heiligt demnach nicht die Mittel. Dem entgegen steht der Konsequentialismus, der den moralischen Wert einer Handlung immer aufgrund ihrer Konsequenzen beurteilt. Wenn man also Tausende von Menschen retten kann, indem man eine Person foltert, wäre es moralisch es zu tun?
Belle und Austins Konsequentialismus bestätigt sie darin, dass es sich lohnt ein paar arme Schlucker auszusagen, damit sie große Kunst erschaffen können. In einer für mich eher unnötigen Folge sehen wir, dass die beiden vor der Einnahme der Pille, wie Harry nicht erfolgreich waren. Während Austin sich als Dragqueen versuchte, schrieb Belle Sexromane, die man im Supermarkt an der Kasse findet. Doch nach der Einnahme der schwarzen Pille ist sie wie berauscht, endlich hat sie die Bestätigung, dass sie Talent hat. Ihr Blutdurst ist so stark, dass sie ihrem untreuen Ehemann sofort an die Gurgel springt und ihn tötet. Interessant ist hier, dass sie im Gegensatz zu Harry gar nicht erst versucht, den Drang nach Blut zu unterdrücken. Auch Alma hat nach ihrer Transformation kein Problem damit menschliches Blut zu trinken und dafür selbst über Leichen zu gehen.
Durch ihren neuen wohlhabenden Lebensstil hat Belle Noire scheinbar auch ihre Vorstellung von Moral hinter sich gelassen: Immer wieder bezahlt sie den verarmten Prostituierten Mickey um etwas an ihm zu saugen, oder zwingt die Obdachlose Karen, ihr ein Baby dafür zu bringen. Daher ist es wenig überraschend, dass Belle und Austin kein Problem damit haben, die Gardners auf Wunsch der Chemikerin umzulegen. Diese entwickelte die Pillen während ihrer Zusammenarbeit mit dem US Militär und experimentierte im Dorf mit zahlreichen Anwohnern. Neuankömmlinge sind bei ihr jedoch nicht gern gesehen, weshalb sie die Gardner Familie lieber loswerden will.
Die Sicht der Ausgestoßenen
Als Gegengewicht zu dieser unmoralischen Seite der Akteure, stellen sich Karen und Mickey. Während Karen bereits kein Dach über dem Kopf hat, lebt Mickey in einer heruntergekommenen Hütte. Sie halten sich als Ausgestoßene der Gesellschaft gerade so über Wasser, scheinen sich jedoch ihr reines Herz behalten zu haben. Karen macht immer wieder deutlich, dass sie niemals zu einem dieser Blutsauger werden will, egal wie reich sie werden könnte. Selbst nachdem Mickey die sehr gelungenen Gemälde von Karen findet und ihr anbietet gemeinsam die Pille zu nehmen, steht sie zu ihrem Wort und lehnt ab. Diese Moralität hat für Belle Noire keinen Wert, immer wieder betont sie, wie abstoßend sie die beiden und ihre Armut findet und dass sie ihr niemals das Wasser reichen könnten.
Belle könnte hier sinnbildlich für die Reichen und Schönen stehen, die auf die Armen herunterblicken und sie als Menschen zweiter Klasse betrachten. Gerne nutzen sie ihre Arbeitskraft und verbrauchen sie als Nahrungsquelle, aber zu keinem Zeitpunkt sehen sie sich auf einer Ebene mit ihnen. Es scheint, als sei es unmöglich ohne die Pillen das von der Gesellschaft geforderte Level zu erreichen. Egal wie viel Talent man hat und wie hart man arbeitet, nur wenn man bereit ist seine Moralvorstellungen abzulegen, Leute umzubringen und von ihnen zu zehren, kann man es schaffen. Und geschafft, hat man es nur, wenn man der allerbeste ist: Nicht mehr wunderschön, sondern die Allerschönste, nicht mehr Popstar, sondern der beste Popstar den es jemals gab, nicht mehr lecker, sondern das leckerste was du jemals probiert hast. Natürlich stellt sich dadurch die Frage, ob es im Entertainment Business überhaupt möglich ist berühmt zu werden, ohne zunächst Übergriffe zu ertragen, seinen Körper künstlich zu bearbeiten und Menschen zu betrügen.
Micky hat jedenfalls die Schnauze voll von der ewigen Armut. Also nimmt er eine schwarze Pille, die er von Belle gestohlen hat und wird zum erfolgreichen Drehbuchautor. Da ihm wirklich was an Karen liegt, beweist er seine Treue und kommt nach seinem Erfolg mit einem Sportwagen zurück, um ihr einen tollen Job anzubieten. Alles was sie dafür tun muss, ist die Pille zu nehmen. Als Karen erneut ablehnt, lässt er sie inmitten eine Gruppe Pale People zurück, die kurz davor sind sie auszusaugen. Im letzten Moment nimmt sie die Pille, wodurch die Gruppe sofort von ihr ablässt. Dadurch dass Micky sie hier zum Sterben überlässt, ist für Karen klar, dass er bereits von Hollywood korrumpiert wurde. Daher entscheidet sie sich dazu, zunächst ihm und dann sich selbst das Leben zu nehmen. Sie malt ein letztes Kunstwerk und läuft mit dem Gewissen, dass sie sich selbst treu geblieben ist, ins offene Meer. Es scheint als sei in der Welt von Red Tide kein Platz für Menschen wie Doris oder Karen, egal wie sehr sie versucht haben, sich zu wehren.
Und dann sind da noch die, die einfach Geld verdienen wollen
Einen nicht unwichtigen Teil der Geschichte nimmt Harrys skrupellose Agentin Ursula ein. Nachdem dieser plötzlich so unfassbar gute Skripte abliefert, macht sie sich auf den Weg ins Dorf und findet nach und nach raus was vor sich geht. Als Karrierefrau stellt sie sich mit den richtigen Leuten gut und schmiedet einen Plan mit der Chemikerin, die ab sofort ganz Hollywood beliefern soll. Aus welchen Gründen auch immer will sie Alma und das kleine Neugeborene Baby der Gardners behalten. Als eines Abends Belle und Austin vorbei kommen, um ihren Auftrag zu erfüllen die Familie zu töten, werden sie jedoch selbst durch einen Plan von Ursula getötet. Und da Almas Vater sich dazu entschieden hat, dass die beiden ab sofort keine Pillen mehr nehmen, bringt die kleine ihn eben um. Auch beim Plan Mutter Doris dazu zu bringen, die Pille zu nehmen, war Ursula die treibende Kraft.
In dem leider recht unspektakulären Finale der letzten Folge sieht man wie Ursula, die Chemikerin, Alma und ihr Babybruder nun in Los Angeles leben. Ursula hofft auf neue talentierte Kunden und verteilt daher die schwarzen Pillen in ganz LA. Leider resultiert das in unheimlich vielen Pale People, die nun in Hollywood herumlaufen und Menschen attackieren. Dennoch sind die Frauen überzeugt davon, das richtige zu tun und auch Alma saugt freudig zunächst einen Mann im Poolhaus aus und tötet danach ihre Konkurrenz beim Vorspiel an der Philharmonie. Am Ende bleibt der Eindruck, dass man Menschen, die es in der heutigen Gesellschaft zu Ruhm gebracht haben, einfach nicht stoppen kann…
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